Schon immer hat es die Menschheit verstanden, die eigenen Fähigkeiten und Stärken mit neuen Möglichkeiten zu verbinden – durch Werkzeuge, neue Technologien und Verbindungen mit anderen Spezies. Wird der Mensch sich im 21. Jahrhundert selbst neu erfinden?
Es war eine noch nie dagewesene Verbindung: Die Berührung eines fremden Himmelskörpers. Der erste Schritt eines Menschen auf außerirdischem Boden. An ihren Fernsehgeräten folgten 600 Millionen Zuschauer den Männern der Apollo-11-Mission, die als erste Menschen den Mond betraten.
21 Stunden und 36 Minuten lang blieben Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf dem Mond, begleitet von Michael Collins im Orbit. Nicht einmal ein ganzer Tag. Doch er veränderte das Selbstverständnis der Menschheit. Die erste Mondlandung wurde für eine ganze Generation zum Symbol, dass alles möglich war.Mensch-Maschine-Verbindungen sind keine Zukunftsmusik. Dank moderner Technik macht der Mensch ungeahnte Entwicklungssprünge
Mit 40.000 km/h zu neuen Horizonten
Wer zu den Sternen will, braucht die richtigen Werkzeuge.Deshalb löste US-Präsident Kennedy 1961 einen spektakulären Innovationschub aus, als er das Reiseziel Mond ausgab. Die Menschheit hat es schon immer verstanden, die eigenen Fähigkeiten und Stärken mit neuen Möglichkeiten zu verbinden. Früh stand beispielsweise fest, dass die Apollo-Astronauten einen leistungsstarken Bordcomputer brauchen würden, um komplexe Manöver im Weltraum durchzuführen.
Weil der Platz an Bord ihrer Raumkapsel für die monströsen Computer-Schränke der Sechziger zu knapp war, mussten sich die NASA-Ingenieure etwas einfallen lassen. Und so erfanden sie den Apollo Guidance Computer (AGC) – den ersten Rechner mit integrierten Schaltkreisen moderner Bauart: komplexe elektronische Schaltungen aus Transistoren und anderen Bauelementen, zu einer Einheit verbunden auf winzigen Halbleiterplättchen. Zwar war die Leistung des AGC einem heutigen Smartphone weit unterlegen. Doch durch clevere Programmierung leistete er so wertvolle Dienste, dass man fast von einem vierten Crewmitglied sprechen kann.
An anderer Stelle war nicht präzise Berechnung, sondern brutale Kraft gefragt. Kein irdisches Triebwerk besaß auch nur ansatzweise genug Leistung, um eine Raumkapsel samt Landemodul und drei Passagieren aus den Fesseln der Schwerkraft zu befreien und bis zum Mond zu bringen. Und so erfand das NASA-Team ein 3.000 Tonnen schweres Monstrum, mit 111 Metern höher als die Freiheitsstatue, dessen drei Stufen Apollo 11 auf über 40.000 Kilometer pro Stunde beschleunigten: die Saturn-V-Rakete. Es war ein Meilenstein in der Geschichte der Geschwindigkeit. Doch bei weitem nicht der wichtigste.
Rakete auf vier Beinen
Die Apollo-Mission mit ihrer Fusion aus Erfindergeist und maschineller Rechenleistung, aus Willenskraft und explosivem Schub, ist bis heute beeindruckend. Dennoch haben andere Verbindungen die Geschichte der Menschheit tiefgreifender verändert als jene von Mensch und Mond. Zum Beispiel die Verbindung zwischen Mensch und Tier.
Das erste Beschleunigungswerkzeug der Menschheit war mehr als genügsam. Statt des hochexplosiven Sauerstoff-Kerosin-Gemischs der Mondlandungs-Ära begnügte sich die „Rakete der Frühgeschichte“ mit Gräsern, Getreide und Obst – und hatte statt 84 Millionen Pferdestärken, wie die Saturn V, nur eine einzige. Trotzdem muss das Pferd den Menschen der späten Steinzeit mit seiner Kraft und Anmut so fasziniert haben, dass er es zähmen wollte – erfolgreich. Eines Tages konnte er auf dem Rücken des Pferdes reiten. Und das so fließend, elegant und anstrengungslos, als wären Pferd und Reiter miteinander verschmolzen.
Der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff nennt diese Verbindung den „Kentaurischen Pakt“ – angelehnt an die Kentauren der griechischen Mythologie, sagenhafte Mischwesen aus Pferd und Mensch mit Kopf, Armen und vier behuften Beinen. „Als zum ersten Mal ein Mensch ein Seil oder einen Riemen durch die weichen Lippen eines Pferdes zog“, so Raulff, „wurde eine technische Verbindung hergestellt, die als elementar für ungezählte weitere Verbindungen technischer ebenso wie politischer, ymbolischer und emotionaler Art gelten darf.“ Das schnelle Pferd und der erfinderische Mensch veränderten gemeinsam die Welt.
Rakete, Auto, Pferd: Die Geschichte der Beschleunigung reicht bis in die Steinzeit zurück
Eine Verbindung mit revolutionären Folgen
„Mit dem Pferd kam das Tempo in die Geschichte“, sagt Ulrich Raulff. Unzählige Erfindungen profitierten von der Kraft des Pferdes: der Pflug. Die Post. Der öffentliche Personennahverkehr. Vor dem Durchbruch der Dampfmaschine wurden die ersten Straßen- und Eisenbahnen von Pferden gezogen, Förderanlagen und Pumpen in Bergwerken mit Pferdestärken betrieben.
Auf dem Höhepunkt der Pferdezeit, Ende des 19. Jahrhunderts, lebten allein in Paris rund 80.000 Pferde, in London gar 300.000. Vierstöckige Ställe und unzählige Brunnen wurden gebaut, „Kraftstoff-Felder“ zur Heu-, Stroh- und Getreideerzeugung umgaben die Metropolen. Als früher Vorläufer des Dieselfahrverbots wurden „pferdefreie Zonen“ in den von Mist verstopften Städten diskutiert – bis der Mensch in der Technik einen neuen Verbündeten fand.
Der Schubkraft von Dampfmaschine und Verbrennungsmotor war das Pferd nicht gewachsen: Traktoren ersetzten Ackergäule. Eisenbahnen, Busse und Autos erschlossen weitere Strecken als jemals zuvor. Immer raffiniertere Automatisierungen profitierten von neuen, kompakteren Antriebsformen. In weniger als einem Jahrhundert vollzog sich die Trennung einer über 6.000-jährigen Zusammenarbeit. Heute leben in ganz Deutschland nur noch so viele Pferde wie einst in London. Wenige von ihnen müssen noch täglich arbeiten.
Fortschritt oder Verfall?
Der Geist des kentaurischen Pakts lebt in den technischen Innovationen der Gegenwart weiter: Intelligente Verbindungen sollen die Einschränkungen des Menschen aufheben und ihm helfen, die Grenzen seiner Natur zu überwinden. Kaum jemand ist auf diesem Weg weiter gegangen als der US-amerikanische Biophysiker Hugh Herr. Dabei hatte der junge Herr mit Technik wenig im Sinn, denn seine Familie gehörte der Glaubensgemeinschaft der Mennoniten an. Wie die Amish leben manche Mennoniten noch heute wie im 17. Jahrhundert: kein Fernsehen, kein Handy, kein Computer; zum Teil noch nicht einmal elektrisches Licht. Hintergrund ist nicht Technik-Angst, sondern religiöse Überzeugung: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es im ersten Buch Mose. Darum sehen konservative Mennoniten technische Hilfsmittel als unzulässige Arbeitserleichterung. Die Verbindung aus Mensch und Technik bedroht für sie die Verbindung zu Gott – was andere Fortschritt nennen, erleben sie als Verlust.
Entsprechend naturverbunden lebte Hugh Herr: Als „Freeclimbing-Wunderkind“ eroberte er schon mit acht Jahren über 3.500 Meter hohe Berge – ohne Hilfsmittel, allein mit der Kraft der eigenen Muskeln, aufs Engste verbunden mit der Natur. Mit 17 galt Herr als einer der besten Kletterer der Vereinigten Staaten. Bis ein Naturereignis seinem Leben eine radikale Wende gab.
Von Freeclimber zum Superman
Im Januar 1982 gerät Hugh Herr bei einer Expedition am Mount Washington in einen gewaltigen Schneesturm. Plötzlich ist sein ganzes Geschick nichts mehr wert. Wirbelnde weiße Massen machen jede Orientierung unmöglich; jede Verbindung zur Außenwelt ist abgeschnitten. Als er nach drei Nächten bei minus 30 Grad Celsius von einem Rettungstrupp gefunden wird, hat er schwere Erfrierungen erlitten. Im Krankenhaus verliert er beide Beine.
Doch statt mit seinem Schicksal zu hadern, nimmt Herr es selbst in die Hand. Mit Feuereifer studiert er Maschinenbau, Elektronik, Physik und die menschliche Anatomie, eignet sich praktische Fähigkeiten bei einem Werkzeugmacher an – und entwickelt eine vollkommen neue Generation von Prothesen. Heute ist Hugh Herr einer der führenden Visionäre für die Verbindung von Mensch und Maschine und leitet das Center for Extreme Bionics am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dank seiner titanverstärkten und rechnerunterstützten „Superbeine“ klettert der (aus konventioneller Sicht) schwerbehinderte 54-Jährige nach seinem Unfall auf höherem Niveau als davor.
Inzwischen hat Hugh Herr für fast jede Gelegenheit ein passendes Paar Beine entwickelt und liebt es, seine übermenschlichen Fähigkeiten spielerisch zu demonstrieren: „Wenn ich mich unsicher fühle, drehe ich einfach meine Größe nach oben.“ Für ihn wäre es nur logisch, wenn auch andere Sportler ihre Fähigkeiten mit technischen Geräten erweitern würden: „In der Zukunft werden wir ohnehin alle Exo-Skelette tragen“ – raffinierte Konstruktionen also, die den menschlichen Bewegungsapparat unterstützen und verstärken. Mit einem Exo-Skelett könnte selbst „Otto Normalverbraucher“ Autos stemmen wie Superman.
Upgrades statt Evolution?
Industrie-Arbeiter, die mit Hilfe von Exo-Skeletten schwere Eisenguss-Teile mühelos auf einen Lkw verladen – ganz ohne Krane, Roboter und andere Verladetechniken? Für Futuristen wie Hugh Herr wäre das nur folgerichtig. Und die immer engere Verzahnung von Mensch und Technik schreitet voran: Bald soll der Übergang vom Körper zur Prothese praktisch nicht mehr zu spüren sein, dank verbesserter künstlicher Haut und direkter Nervenverbindung.
„Der nächste Schritt der Evolution ist vielleicht nicht biologisch – sondern technisch“, prophezeit das amerikanische Technikkultur-Magazin „Wired“. Auf der ganzen Welt arbeiten selbsternannte „Bio-Hacker“ daran, die eigenen Grenzen zu überwinden: So wie Computerhacker Software umprogrammieren, um Codes und Algorithmen zu knacken, so modifizieren Bio-Hacker ihre eigene „Wetware“, wie sie den menschlichen Körper bezeichnen.
Die Cyberbrillen der Zukunft zeigen keine künstlichen Welten, sondern verwischen die Grenzen zwischen virtueller Wirklichkeit und Alltag
Eine neue Realität
Prothesen, Reittiere, Raumfahrt: Verbindungen versetzen den Menschen in die Lage, mit schwierigen Umgebungen zu interagieren. Was aber, wenn die Außenwelt selbst verändert werden soll – wenn es nicht um die Kombination von Mensch und Technik geht, sondern um die Verschmelzung von wirklicher und virtueller Realität?
Auch hier gibt es erstaunliche Fortschritte: Systeme wie die „Cyberbrille“ Microsoft Hololens machen eine „Augmented Reality“ schon heute möglich – eine erweiterte Realität, die durch Einblendung von Grafiken und dreidimensionalen Objekten entsteht, die vermeintlich im Raum schweben. Einsatzgebiet: Smart Factories. Denn dank Hololens sieht ein Techniker beim Fabrikrundgang nicht nur das Äußere seiner Maschinen, sondern auch die wichtigsten Kennzahlen und Messwerte aus ihrem Inneren. Und das, ohne zu Smartphone, Pad oder anderen Steuergeräten zu greifen.
So wie das Exo-Skelett Mitarbeitern ungeahnte Körperkraft verleiht, ist die Cyberbrille eine mächtige „Wissensprothese“: Mit ihrer Hilfe kann ein Mechaniker, der ein komplexes Gerät zum ersten Mal repariert, Schritt für Schritt durch alle Arbeitsphasen geleitet werden. Er sieht die nötigen Handgriffe direkt an der Maschine vor sich – als holographische Projektion, die mit dem Realbild verbunden ist. Auch Anlernzeiten in der Produktion könnten so auf wenige Minuten reduziert werden.
Sehende Hände und einsame Flüge
Andere Systeme bieten im wahrsten Sinne des Wortes handfestere Vorteile: So hat das Münchner Startup ProGlove einen intelligenten Handschuh entwickelt, der die Mitarbeiterfinger nicht nur schützt, sondern um zusätzliche Funktionen erweitert. Ein Scanner nimmt Barcodes und andere wichtige Aspekte der Umwelt wahr, ein Vibrationsmodul gibt unmittelbar spürbares Feedback, beispielsweise zu korrekt oder fehlerhaft ausgeführten Handgriffen. Schon heute wird das System bei Automobilherstellern wie Skoda und BMW eingesetzt, um Logistikprozesse zu optimieren – ein Stück „Industrie 4.0“ zum Anziehen. Die Verbindung zu menschlichen Kollegen kann und soll weder die Hightech-Brille noch der smarte Handschuh ersetzen. Was aber, wenn Situationen entstehen, in denen Kommunikation und Interaktion von Mensch zu Mensch unmöglich sind? Ein Beispiel sind neue Entwicklungen in der Raumfahrt: Über 50 Jahre nach den ersten Flügen zum Mond mehren sich Stimmen, die eine Renaissance des interplanetarischen Reisens fordern – um neue Ressourcen und vielleicht auch neue Lebensräume für den Menschen zu erschließen.
Schon lassen Milliardäre wie Elon Musk oder Amazon-Gründer Jeff Bezos eigene Raketen bauen, und die US-Raumfahrtbehörde NASA plant Flüge zum Mars. Jahrelange Reisen könnten zur Zukunft des Menschen gehören. Wie Astronauten über so lange Zeit hinweg körperlich gesund bleiben, dazu gibt es umfangreiche Forschung. In letzter Zeit richtet sich der Fokus jedoch verstärkt auf die Seele: Wie können psychische Belastungen auf den immer längeren Flügen verringert werden? Wie viel Einsamkeit ertragen Astronauten, die monate- oder jahrelang von ihren Familien und Freunden abgeschnitten sind?
Gesünder reisen mit Cimon
Genau bei dieser Frage setzt „Projekt Cimon“ an: Ein fünf Kilo schwerer, weißer Medizinball mit Bildschirm für die Mimik, so ungefähr lässt sich Cimon (sprich „ßei-mön“) beschreiben. Sein Name ist eine Kurzform für „Crew Interactive Mobile Companion“. Mithilfe von 14 integrierten Propellern fliegt Cimon herum, dokumentiert Experimente – und ist vor allem auch Gesprächspartner. Wenn keine menschlichen Kollegen an Bord sind (oder wenn diese schlafen), soll Cimon den Wachhabenden als „fliegendes Gehirn“ und „künstlicher Copilot“ vor dem Weltraumkoller bewahren. Cimon vermittelt das psychologisch so wichtige Gefühl der Verbundenheit und hält den Menschen geistig fit, dank neuronaler Netzwerke mit künstlicher Intelligenz (KI) und einem immer besseren emotionalen Einfühlungsvermögen.
Erste psychologische Tests auf der Erde zeigen, dass die vergleichsweise schlichte „Sozialprothese“ tatsächlich funktionieren kann. Seit Juli 2018 unterstützt Cimon als erster KI-Roboter im All den deutschen Astronauten Alexander Gerst auf der Internationalen Weltraumstation ISS. „Die Umgebung, in der Astronauten leben und arbeiten, ist komplex und stressig“, sagt Till Eisenberg, Cimon-Projektleiter beim Raumfahrtkonzern Airbus Defence and Space in Friedrichshafen. „Ein Assistent, der sich in dieser Umgebung perfekt auskennt, der genau weiß, was an welcher Stelle wie zu machen ist, ist sicherlich eine große Hilfe.“
Dank KI-Begleitung ist der Mensch in Zukunft nicht mehr allein im All – egal, was er da draußen noch findet
Neue Ziele – neue Verbindungen
Die Verbindung des Menschen mit einer anderen Form von Intelligenz. Die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch eine neue, diesmal künstliche „Lebensform“, die helfen soll, neue räumliche Dimensionen zu erschließen – das alles erinnert an eine höchst erfolgreiche Kooperation aus der Geschichte.
Folgt 6.000 Jahre nach dem Kentaurischen Pakt die „KI-Allianz“? Noch ist diese Frage völlig offen. Und natürlich ist die Möglichkeit einer solchen Verbindung nicht nur mit Hoffnungen, sondern auch mit Ängsten verbunden. So war es noch bei jedem technischen Fortschritt. Vielleicht hilft es fürs Erste, sich Cimon in der Ahnenreihe aus Pferdepflug, Apollo-11-Computer und modernen Industrie- 4.0-Tools vorzustellen. Das Neue und Ungewohnte hat den Menschen stets weitergebracht.
In diesem Licht erscheinen Cimon und Kollegen als Teil einer Geschichte, die so alt ist wie die Menschheit. Denn eines ist sicher: Was immer die Zukunft bringt – der Mensch wird nie damit aufhören, seine Fähigkeiten zu erweitern, indem er in Natur und Technik nach Verbündeten sucht.
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